Otitis media: Wenn das Mittelohr die Sprache verschluckt
Autor: Maximilian Bauer, Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology
Otitis media ist keine Seltenheit – und doch ist sie alles andere als banal. Für Kinder kann eine unbehandelte Mittelohrentzündung bedeuten, dass sie Sprache verzögert lernen, schlechter hören und im Schulalter mit weniger kognitiver Energie durchs Leben gehen. Für Eltern ist es oft eine stille Belastung: Schon wieder Fieber, wieder Antibiotika, wieder der Verdacht auf „Wasser im Ohr“.
Und aus audiologischer Sicht? Ist Otitis media eines der faszinierendsten und gleichzeitig frustrierendsten Themen: temporäre Hörverluste, veränderte Tympanogramme, fragliche Sprachwahrnehmung – und all das bei einem Kind, das sich nicht klar äußern kann.
Otitis media ist kein einzelnes Krankheitsbild, sondern ein Sammelbegriff für mehrere Zustände, die alle mit einer Entzündung oder einem Erguss im Mittelohr einhergehen. Der Begriff deckt sowohl akute Infektionen als auch chronische Flüssigkeitsansammlungen ab, ebenso wie persistierende Schäden nach rezidivierenden Entzündungen. Klinisch unterscheidet man:
- Akute Otitis media (AOM): Plötzlicher Beginn, Schmerzen, oft Fieber und eine Vorwölbung des Trommelfells.
- Otitis media mit Erguss (OME): Flüssigkeit im Mittelohr ohne akute Entzündung – oft unbemerkt, aber mit Hörverlust.
- Chronisch suppurative Otitis media (CSOM): Dauerhafte Entzündung mit Trommelfellperforation und Otorrhoe.
- Rezidivierende AOM (RAOM): Mehrere akute Episoden in kurzer Zeit – meist im Vorschulalter.
Die Ursache ist oft banal, der Mechanismus jedoch entscheidend: Eine Infektion der oberen Atemwege führt zur Schwellung der Eustachischen Röhre – dem Verbindungskanal zwischen Rachen und Mittelohr. Diese Schwellung verhindert den Druckausgleich, es entsteht ein Unterdruck im Mittelohr, der Flüssigkeit aus dem umliegenden Gewebe ansaugt. Bakterien und Viren, die normalerweise im Nasen-Rachen-Raum leben, gelangen so ins Mittelohr. Bei Kindern ist die Eustachische Röhre kürzer, horizontaler und enger – ein perfektes Einfallstor.
Die Häufigkeit spricht Bände: Rund 60% aller Kinder haben bis zum dritten Lebensjahr mindestens eine Episode von AOM durchgemacht. In manchen Regionen – etwa bei indigenen australischen Kindern – sind die Raten für CSOM und Trommelfellperforationen besorgniserregend hoch. Risikofaktoren sind neben Alter und Genetik auch Umweltbedingungen: Passivrauchen, Kindertagesstätten, fehlendes Stillen oder schlechte Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko deutlich.
Diagnostisch ist die Otoskopie der Goldstandard – idealerweise kombiniert mit pneumatischer Prüfung zur Beurteilung der Trommelfellbeweglichkeit. Audiologisch liefern die Tympanometrie (Typ B bei Erguss, Typ C bei Unterdruck), OAE und ABR Hinweise auf den Schallleitungsverlust. In der Regel liegt dieser im Bereich von 20–40 dB – also im leicht- bis mittelgradigen Bereich, jedoch mit erheblicher Auswirkung auf Sprachentwicklung und selektives Hören.
| Otitis-Form | Merkmale | Tympanogramm |
|---|---|---|
| AOM | Akut, schmerzhaft, eitrig | Typ B |
| OME | Erguss, meist schmerzlos | Typ B |
| Tubendysfunktion | Druckgefühl, kein Erguss | Typ C |

Therapeutisch dominiert heute der differenzierte Ansatz: Nicht jede AOM braucht sofort ein Antibiotikum. „Watchful waiting“ gilt als sicher – vor allem bei Kindern über 2 Jahren mit moderaten Symptomen. Bei chronischer OME mit Hörverlust oder sprachlichen Auffälligkeiten sind Paukenröhrchen nach wie vor Standard. Die Rolle der Adenotomie ist differenziert zu sehen und abhängig vom Alter und vom Ausmaß der nasopharyngealen Obstruktion.
Langfristig ist Prävention der Schlüssel: Stillen, Rauchverzicht, Impfungen (v.a. gegen Pneumokokken) und gute Betreuung sind nachweislich wirksam. Otitis media mag häufig sein – sie darf aber kein Schicksal sein. Und erst recht keine stille Ursache für verzögerte Sprachentwicklung.
Quellen
- Schilder et al. (2016). Otitis media. Nat Rev Dis Primers
- Kaur et al. (2017). Epidemiology of AOM. Pediatrics
- Jervis-Bardy et al. (2013). Otitis in Indigenous Australians. J Laryngol Otol
- Thomas et al. (2014). Acute otitis media. Dtsch Arztebl Int
- Lee et al. (2012). Korean Guidelines. Korean Med Sci
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