Auditorische Rehabilitation: Was Hörtraining wirklich leisten kann

Ein Man überlegt ob ein Ohr mit einem Springseil trainieren könnte

Autor: Maximilian Bauer (Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology)

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Viele Menschen gehen davon aus, dass ein Hörgerät oder Cochlea-Implantat (CI) das Hören „repariert“.

Doch die Wahrheit ist: Das Gehirn muss neu lernen, mit diesen Signalen umzugehen.

Dass Hören ein aktiver Lernprozess ist, erkannte bereits der amerikanische Audiologe Raymond Carhart – oft als „Vater der audiologischen Rehabilitation“ bezeichnet.

Schon in den 1940er Jahren entwickelte er erste Konzepte des Hörtrainings für Kriegsveteranen mit Hörverlust. Seine Erkenntnis: Die reine Verstärkung reicht nicht.

Raymond Carhart
Ohne gezielte Reorganisationsprozesse im Gehirn bleibt Sprache unverständlich.

Hörtraining – oder genauer: auditorische Rehabilitation – ist keine Kür, sondern eine neurokognitive Notwendigkeit. Und sie sollte immer individuell begleitet werden.

1. Was ist auditorische Rehabilitation?

Auditorische Rehabilitation (AR) bezeichnet gezielte Maßnahmen, um das Hören nach einer Schädigung oder Versorgung wieder zu optimieren – insbesondere nach dem Einsatz eines Hörgeräts oder Cochlea-Implantats. Sie ergänzt die Technik durch Training des zentralen Hörens.

Abgrenzung zur Audiotherapie (AVWS)

AR wird häufig mit kindzentrierter Audiotherapie verwechselt – etwa bei AVWS (Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen). Doch AR richtet sich in erster Linie an Erwachsene mit erworbenem Hörverlust, nicht an Kinder mit neurologischen Entwicklungsstörungen.

Auditorische Deprivation

Je länger ein Hörverlust unversorgt bleibt, desto stärker verändert sich die zentrale Hörverarbeitung. Bereiche des Gehirns verlernen, Sprache effizient zu verarbeiten – vor allem im Störschall.

Hörtraining ist dann keine Kür, sondern eine neurokognitive Notwendigkeit.

2. Wie das Gehirn hören lernt: Die Bausteine der AR

Moderne Hörsysteme liefern ein gutes Signal. Doch ob dieses auch als „Sprache“ erkannt wird, entscheidet das Gehirn. Echtes Verstehen beginnt zentral – nicht technisch.

Zentrales Sprachverstehen

Sprache im Störlärm zu verstehen ist keine Frage des Pegels, sondern der kognitiven Selektion. AR trainiert die Fähigkeit, relevante Sprachinformationen aus einem komplexen Geräuschumfeld herauszufiltern.

Auditive Differenzierung

Wer „Kirsche“ nicht mehr von „Kirche“ unterscheiden kann, verliert Sprachverständnis im Detail. Gute Trainingsprogramme fördern gezielt die Fähigkeit, feine Unterschiede zwischen Phonemen wahrzunehmen – insbesondere bei S-F-T-Kontrasten oder tonalen Unterschieden.

Richtungshören und Lokalisation

Räume hören zu lernen ist essenziell – besonders bei bilateralen Hörgeräten oder CI-Versorgung. AR kann helfen, die Orientierung im Raum und das Richtungshören wieder zu verbessern, indem es binaurale Hinweise bewusst trainiert.

Neuroplastizität als Grundlage

Das Gehirn ist lernfähig – auch im Alter. Plastizität bedeutet, dass ungenutzte Netzwerke wieder aktiviert, reorganisiert oder sogar neu gebildet werden können. Die Voraussetzung: Wiederholung, Relevanz und Motivation.

3. Hörtraining mit Cochlea-Implantat: Ein Spezialfall

Cochlea-Implantate liefern keine akustischen Signale, sondern elektrische Muster. Das Gehirn muss komplett umlernen. Auditorische Rehabilitation ist hier integraler Bestandteil der Versorgung.

Von akustisch zu elektrisch

Anders als bei Hörgeräten muss das zentrale Nervensystem beim CI neue Repräsentationen aufbauen. Klänge wirken zunächst synthetisch, Sprache fremd. Durch regelmäßiges Training – oft über Monate – entsteht eine neue Hörrealität.

Die Rolle der Fachpersonen

In der CI-Reha arbeiten Audiologen, Logopäden und spezialisierte Therapeuten eng zusammen. Ohne diese Begleitung gelingt die Umstellung selten nachhaltig. Eigenständige Trainings-Apps sind bestenfalls eine Ergänzung – aber kein Ersatz für professionelle Anleitung.

4. Warum Hörtraining nicht allein funktioniert

Viele Programme versprechen „Selbsttraining“ – mit App, Kopfhörer und ein paar Minuten täglich. Doch die Realität ist komplexer. Gutes Hörtraining braucht:

  • eine genaue Analyse des individuellen Hörprofils,
  • eine Anpassung an kognitive Ressourcen,
  • Rückmeldung durch erfahrene Fachpersonen.

Erst dadurch wird aus einem Programm eine echte Rehabilitation – und aus Technik echte Lebensqualität.

5. Programme & Unterstützung: Was es wirklich gibt

Anerkannte Trainingsprogramme

Es gibt mittlerweile einige evidenzbasierte Programme, die gezielt zentrale Hörfunktionen trainieren:

  • LACE (Listening and Communication Enhancement): Fokus auf Sprachverstehen und kognitive Hörverarbeitung.
  • HörFit: Ein deutschsprachiges Programm für Hörgeräteträger mit Fokus auf phonematische Differenzierung.
  • train2hear: App-basiert, speziell für CI-Träger entwickelt.

Individuelle Begleitung statt Standardlösung

Gutes Hörtraining ist wie eine Reha nach einer OP – ohne Plan, Ziel und Anleitung läuft man Gefahr, sich zu überfordern oder falsch zu trainieren. Die Rolle des Hörakustikers oder Audiologen ist es, das Training auf die individuellen Voraussetzungen abzustimmen.

6. Fazit: Technik reicht nicht – Hören ist Training

Hörgeräte und Cochlea-Implantate sind technologische Meisterleistungen. Aber sie sind nur das Werkzeug. Hören lernen muss das Gehirn. Und das braucht Training, Wiederholung und Geduld – begleitet von Menschen, die wissen, wie Hören funktioniert.

👉 Wenn Sie verstehen möchten, wie Hörstress entsteht und warum gutes Hören Energie spart, lesen Sie weiter auf meiner Seite über zentrales Hören.

7. Wissenschaftliche Quellen

  • Carhart, R. (1946). Auditory Training Conference Proceedings, Chicago: Northwestern University.
  • Boothroyd, A. (2007). Adult aural rehabilitation: What is it and does it work?
  • Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie: Leitlinie AVWS.

Autor: Maximilian Bauer, Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology

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