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Autor: Maximilian Bauer, Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology
Viele Patienten erhalten nach Monaten der Suche eine Diagnose, die oft mehr Fragen aufwirft als beantwortet: „psychogener Schwindel“. Das klingt vage, unpräzise – und für Betroffene oft verletzend.
Tatsächlich gibt es heute klare medizinische Definitionen für funktionelle Schwindelformen – mit realen Symptomen, neurophysiologischen Erklärungen und effektiven Therapien. Dieser Artikel klärt auf.
Was ist funktioneller Schwindel?
Funktioneller Schwindel bezeichnet eine Störung der Gleichgewichtswahrnehmung ohne fassbaren organischen Befund. Die Symptome sind real – oft belastend – und treten typischerweise im Rahmen der sogenannten PPPD (Persistent Postural-Perceptual Dizziness), bei phobischem Schwankschwindel oder funktionellen Gleichgewichtsstörungen auf.
Ursache ist meist eine gestörte Verarbeitung zwischen visuellen, vestibulären und propriozeptiven Informationen. Das Gehirn reagiert überempfindlich oder falsch angepasst – besonders nach einem auslösenden Ereignis wie einer Vestibulitis, Migräne oder Panikattacke.
Wie unterscheidet sich psychogener Schwindel?
Der Begriff „psychogener Schwindel“ stammt aus älteren Klassifikationen und bezeichnete früher Schwindel im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen – etwa bei Depression, Somatisierungsstörung oder Angststörung. Heute ist dieser Begriff überholt und wird zunehmend durch das Konzept des funktionellen Schwindels ersetzt.
Wichtig ist: Psychogen bedeutet nicht „eingebildet“ – sondern, dass die Ursache nicht im Gleichgewichtsorgan selbst liegt, sondern in der Verarbeitung oder emotionalen Reaktion darauf. Der Leidensdruck bleibt real.
Typische Symptome und Verlauf
Betroffene berichten häufig über Schwankschwindel, Benommenheit, Unsicherheitsgefühl oder das Gefühl, „wie auf Watte“ zu gehen. Auffällig ist, dass keine Drehbewegung empfunden wird und keine neurologischen Ausfälle bestehen.
Typisch ist eine Verstärkung der Symptome in komplexen Umgebungen – etwa in Supermärkten, auf Rolltreppen oder bei Stress. Oft besteht eine starke Selbstbeobachtung und Angst vor Kontrollverlust.
Abgrenzung zu organischen Schwindelformen
- Menière-Krankheit: Anfallsartiger Drehschwindel mit Hörverlust und Tinnitus
- Neuritis vestibularis: Akuter Drehschwindel, oft mit Übelkeit
- Vestibuläre Migräne: Episodischer Schwindel – häufig ohne Kopfschmerz
- Zentrale Schwindelformen: z. B. bei Multipler Sklerose, Schlaganfall oder Parkinson
Warum die richtige Einordnung so wichtig ist
Die Aussage „Da ist nichts“ verletzt mehr als sie hilft. Funktioneller Schwindel entsteht nicht aus dem Nichts – sondern durch eine veränderte Wahrnehmungsverarbeitung im Gehirn. Wird dies nicht erkannt, folgen oft Fehldiagnosen oder eine endlose Suche nach organischen Ursachen.
Eine transparente, entlastende Aufklärung („Ihr Gleichgewichtssystem reagiert überempfindlich – das ist behandelbar.“) stärkt das Vertrauen und eröffnet neue Wege zur Therapie.
Behandlungsansätze
Funktioneller Schwindel lässt sich oft sehr gut behandeln – vor allem durch eine Kombination aus körperlichem Training und psychologischer Unterstützung:
- Psychoedukation: Aufklärung über die Mechanismen des funktionellen Schwindels
- Verhaltenstherapie: z. B. bei PPPD oder starker Schwindelangst
- Medikamentöse Unterstützung: z. B. SSRI bei chronischer Angst oder Depression
- Vestibuläres Reha-Training (VRT): Gezieltes Gleichgewichtstraining zur Förderung der zentralen Kompensation
In spezialisierten Schwindelambulanzen oder psychosomatischen Kliniken wird häufig ein multimodales Konzept angeboten – mit sehr guten Erfolgen.
Fazit
Funktioneller Schwindel ist keine Einbildung – sondern eine ernstzunehmende Störung der Gleichgewichtswahrnehmung. Die Symptome sind belastend, aber behandelbar. Entscheidend ist, dass Betroffene ernst genommen, gut aufgeklärt und gezielt unterstützt werden.