Aktualisiert am:
Autor: Maximilian Bauer, Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology
Das Gleichgewichtsorgan liegt nur wenige Millimeter neben der Hörschnecke. Kein Wunder also, dass viele Menschen mit Schwindel auch über Hörprobleme berichten – und umgekehrt. Beide Sinne teilen sich nicht nur den knöchernen Labyrinthraum im Innenohr, sondern auch die gleiche Nervenverbindung zum Hirn. Dieser enge Zusammenhang ist medizinisch hochrelevant – vor allem bei älteren Menschen.
Das Gleichgewichtsorgan – Aufbau und Funktion
Das Gleichgewichtsorgan besteht aus drei Bogengängen sowie zwei sogenannten Otolithenorganen: dem Utriculus und dem Sacculus. Die Bogengänge registrieren Rotationsbewegungen des Kopfes (Rotationsbeschleunigung), während die Otolithenorgane lineare Beschleunigungen und die Schwerkraft wahrnehmen (Linearbeschleunigung).
Alle fünf Strukturen enthalten spezialisierte Haarzellen, die über Flüssigkeitsbewegung und Schwerkraftreize aktiviert werden. Die Signale werden über den Nervus vestibularis an das Gehirn weitergeleitet, insbesondere an Kleinhirn, Hirnstamm und Augenmuskelkerne – Grundlage für stabile Körper- und Blickkoordination.
Wie Hören und Gleichgewicht zusammenhängen
Hör- und Gleichgewichtssinn entstehen embryonal aus dem gleichen Ursprungsgewebe und liegen im selben knöchernen Labyrinth des Innenohrs. Sie teilen sich zudem die Blutversorgung über die Arteria labyrinthi und senden ihre Signale gemeinsam über den VIII. Hirnnerven (Nervus vestibulocochlearis) an den Hirnstamm.
Diese enge anatomisch-funktionelle Verbindung erklärt, warum Erkrankungen wie Morbus Menière, Vestibuläre Migräne oder Durchblutungsstörungen oft gleichzeitig Hörverlust, Tinnitus und Schwindel verursachen können.
Erkrankungen, die Hören und Gleichgewicht betreffen
- Morbus Menière: Anfallsartiger Drehschwindel mit Tinnitus und Hörverlust
- Vestibuläre Migräne: Schwindelattacken, oft ohne Kopfschmerz
- Labyrinthitis: Entzündung des gesamten Innenohrs
- Vestibularis-Schaden nach Hörsturz: Gleichgewichtsprobleme nach akutem Hörverlust
Diagnostik – wenn HNO, Audiologie und Neurologie zusammenarbeiten
Zur Abklärung vestibulärer Störungen stehen spezialisierte Verfahren zur Verfügung:
- Audiometrie zur Hördiagnostik
- VNG (Video-Nystagmografie) zur Augenbewegungsanalyse
- cVEMP und oVEMP zur Testung der Otolithenorgane
- Kalorik und Kopfimpulstest zur Prüfung der Bogengänge
Eine interdisziplinäre Herangehensweise ist wichtig – insbesondere bei komplexen Schwindel-Hör-Kombinationen oder unklaren Symptomen.
Rehabilitation – Gleichgewichtstraining trifft Hörtherapie
Bei vestibulären Störungen hat sich Gleichgewichtstraining (vestibuläre Rehabilitationstherapie, VRT) bewährt. Die Übungen verbessern die zentrale Kompensation und fördern die Plastizität der Gleichgewichtszentren.
Auch die Versorgung mit Hörgeräten kann hilfreich sein – etwa durch auditive Referenzpunkte im Raum, die zur besseren Orientierung beitragen. Studien zeigen, dass Hörgeräte bei älteren Menschen indirekt das Sturzrisiko senken können.
Fazit
Gleichgewicht und Hören sind zwei eng verwobene Sinne – nicht nur anatomisch, sondern auch funktionell. Wer an Schwindel leidet, sollte auch das Gehör untersuchen lassen. Und wer eine Hörminderung hat, sollte Gleichgewichtsprobleme nicht einfach hinnehmen, sondern gezielt abklären lassen.