Wo kann Tinnitus entstehen?
von von Maximilian Bauer, MSc. Clinical Audiology (Kommentare: 0)

Wo kann Tinnitus entstehen?
Ich erlebe es häufig: Menschen berichten von einem Ton im Kopf, der einfach nicht mehr verschwindet. Manche glauben, er komme aus dem Ohr, andere spüren ihn mitten im Kopf. Doch wo kann Tinnitus wirklich entstehen?
Die Antwort ist nicht eindeutig. Es gibt mehrere Strukturen im Hörsystem, die daran beteiligt sein können. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die wichtigsten Bereiche, die nach aktuellem Stand der Forschung mit Tinnitus in Verbindung stehen.
Das Innenohr: mögliche Auslöser in der Cochlea
Bei vielen Menschen mit Tinnitus zeigt sich eine Schädigung der Haarzellen im Innenohr – oft als Folge von Lärm, Alterung oder Durchblutungsstörungen. Insbesondere der Verlust der äußeren Haarzellen kann dazu führen, dass leise Hintergrundaktivität in der Hörbahn nicht mehr durch „gesunde“ Signale überlagert wird. Diese sogenannte Deprivation gilt als möglicher Auslöser für Fehlmeldungen im Hörsystem. Das Ohr selbst erzeugt den Tinnitus zwar nicht bewusst, kann aber den Anstoß für die folgenden Prozesse geben.
Der Hörnerv: Weiterleitung ohne Signal
Auch der Hörnerv kann eine Rolle spielen. Wird er nicht mehr regelmäßig durch akustische Reize aktiviert, kann es zu einer veränderten spontanen Aktivität kommen. Diese Veränderungen werden möglicherweise an zentrale Hirnregionen weitergeleitet – wie ein Leitungskabel, das auch dann noch Spannung führt, wenn kein echter Ton vorhanden ist. Einige Studien deuten darauf hin, dass diese „Leerlaufaktivität“ zentral interpretiert werden kann.
Der Hirnstamm: erste Verarbeitung und Verstärkung
In den ersten Verarbeitungsstationen im Hirnstamm – insbesondere im dorsalen Cochleariskern (DCN) – werden Höreindrücke bereits vorbewusst sortiert, gebündelt und mit Signalen aus anderen Sinnessystemen abgeglichen. Man vermutet, dass sich hier bei anhaltender Reizarmut oder durch körperliche Faktoren (z. B. Verspannungen) eine Übererregbarkeit ausbilden kann. Dieser Bereich gilt als möglicher Verstärker für die Entstehung und Wahrnehmung von Tinnitus.
Das Gehirn: bewusste Wahrnehmung und Reorganisation
Erst im Gehirn wird ein Geräusch als „Ton“ bewusst erlebt. Bei Tinnitus-Patienten zeigen sich in Bildgebungsstudien häufig veränderte Aktivitätsmuster in den auditorischen Kortexarealen. Eine verbreitete Theorie besagt, dass die tonotopische Organisation des Gehirns nach einer Hörschädigung neu geordnet wird. Dabei können stille Bereiche überaktiv werden und als Phantomton in Erscheinung treten. Diese kortikale Reorganisation ist nicht bei allen Betroffenen nachweisbar, spielt aber in vielen Modellen eine zentrale Rolle.
Das limbische System: emotionale Bewertung und Verstärkung
Ob ein Tinnitus störend empfunden wird, hängt nicht nur von seiner Lautstärke ab, sondern auch von der emotionalen Bewertung. Strukturen wie der Thalamus, die Amygdala und der präfrontale Kortex sind nachweislich an der Verarbeitung beteiligt. Sie können die Wahrnehmung des Tons abschwächen oder verstärken – je nachdem, wie bedrohlich, belastend oder bedeutungslos er eingeordnet wird. Bei chronischem Tinnitus wird diskutiert, ob diese Filtermechanismen aus dem Gleichgewicht geraten sind.
Körperliche Einflüsse: Modulation über Nacken und Kiefer
Ein Teil der Betroffenen kann seinen Tinnitus durch Bewegung verändern – etwa durch das Anspannen des Kiefers oder Drehen des Kopfes. Solche somatosensorischen Modulationen deuten darauf hin, dass auch andere Sinneskanäle in das Tinnitus-Netzwerk eingebunden sein können. Insbesondere der Nacken, die Halswirbelsäule und das Kiefergelenk stehen im Verdacht, über Verschaltungen im Hirnstamm Einfluss zu nehmen.
Fazit
Tinnitus entsteht nicht an einem einzelnen Ort, sondern ist wahrscheinlich das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen Ohr, Nervensystem und Gehirn. Während das Innenohr den ersten Anstoß geben kann, zeigen viele wissenschaftliche Befunde, dass zentrale Mechanismen im Gehirn, emotionale Bewertung und körperliche Einflussfaktoren eine entscheidende Rolle spielen. Die Entstehung des Tinnitus ist individuell verschieden – und genau deshalb sind auch die therapeutischen Ansätze so vielfältig.
- Tinnitus kann im Innenohr ausgelöst werden, z. B. durch Haarzellschäden.
- Auch der Hörnerv, Hirnstamm und Kortex sind mögliche Mitverursacher.
- Das limbische System beeinflusst, wie belastend der Ton wahrgenommen wird.
- Manche Betroffene erleben körperliche Einflüsse – z. B. durch Nacken oder Kiefer.
- Tinnitus entsteht in einem Netzwerk – nicht an einem einzigen Ort.
Wissenschaftliche Quellen
- Eggermont & Roberts (2015): The neuroscience of tinnitus
- Sedley et al. (2016): A Bayesian framework for understanding auditory hallucinations
- Shore et al. (2016): Maladaptive plasticity in tinnitus—triggers, mechanisms and treatment
Wenn Sie tiefer einsteigen möchten: Hier geht’s zum Grundlagenartikel über Tinnitus.
Autor: Maximilian Bauer, Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology
Newsletter
Mit einer Anmeldung für unseren kostenfreien Newsletter erhalten Sie regelmäßig aktuelle Informationen rund um unser Unternehmen. Zudem erhalten Sie kostenfrei den Downloadlink zur begehrten Hörakustiker-Checkliste.
Kommentare
Einen Kommentar schreiben