Autor: Max Bauer, Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology → Zur Vita
Aktualisiert am: 01. Oktober 2025
Mit einem Paukenschlag hat Sony seine ersten eigenen Hörgeräte auf den US-Markt gebracht – ganz ohne Akustiker, ohne ärztliche Verordnung, direkt als sogenanntes OTC-Produkt. Was auf den ersten Blick nach Innovation klingt, wirft bei genauerer Betrachtung viele Fragen auf: Für wen sind diese Geräte geeignet? Was können sie – und was nicht? Und warum ist die Technik nicht automatisch gleichbedeutend mit gutem Hören?
Dieser Artikel ordnet die neuen Sony-Hörgeräte sachlich ein und zeigt: Wer langfristig gut hören will, braucht mehr als ein schönes Gehäuse und eine App.
Was bedeutet OTC – und warum ändert es alles?
OTC steht für „Over-the-Counter“ – also rezeptfrei, direkt erhältlich im Geschäft oder Online-Shop. Die US-amerikanische FDA hat 2022 erstmals eine eigene Hörgeräteklasse geschaffen, die den direkten Verkauf von Hörsystemen an Endverbraucher erlaubt – ohne ärztliche Diagnose, ohne individuelle Anpassung.
Was oft übersehen wird: Die Verantwortung für die Auswahl und Einstellung des Geräts liegt nun vollständig beim Käufer. Ohne Audiogramm, ohne zentrale Höranalyse, ohne Begleitung.
Die Sony-Technologie: Was steckt drin?
Technisch basiert das Sony-Gerät auf einer Partnerschaft mit WS Audiology – dem Mutterkonzern von Signia und Widex. Verlässliche Signalverarbeitung, drahtlose Konnektivität und eine App-basierte Steuerung bilden das Grundgerüst. Der Preis liegt in den USA je nach Modell zwischen 999 und 1299 Dollar.
Die Geräte sind wiederaufladbar, bieten unterschiedliche Programme – und klingen auf dem Papier durchaus solide.
Die Illusion der Selbstanpassung
Was jedoch fehlt, ist die präzise Feinabstimmung, die ein erfahrener Akustiker vornehmen würde: Anpassung der Verstärkung in ruhiger Umgebung vs. Störlärm, Filterung individueller Störfrequenzen, Berücksichtigung der Höranstrengung – all das bleibt außen vor.
Die App bietet eine einfache Steuerung – aber keine fundierte Hörprofilanalyse. Das mag für einfache Fälle funktionieren, für anspruchsvollere Situationen jedoch nicht.
Meine Experten-Einschätzung: OTC ist nicht gleich gutes Hören
Als Audiologe mit klinischem Hintergrund sehe ich die Sony-OTC-Hörgeräte als sinnvollen Impuls – vor allem für Menschen mit leichten Hörproblemen oder solche, die zum ersten Mal überhaupt über ein Hörgerät nachdenken. Aber es gibt Grenzen.
Ein individuell angepasstes Hörgerät berücksichtigt nicht nur den Hörverlust auf dem Papier, sondern auch Ihre Hörgewohnheiten, Ihre zentrale Verarbeitung und die reale Alltagssituation. OTC-Geräte können das nicht leisten. Vor allem bei Hintergrundgeräuschen, wechselnden Situationen und anspruchsvollen Hörmomenten fehlt die Feinjustierung – was zu Hörstress, Frustration oder sogar zur Verschlimmerung von Tinnitus führen kann.
Gutes Hören ist kein Lautstärkeregler – es ist ein Lernprozess zwischen Ohr und Gehirn. Und genau dafür braucht es die richtige Technik plus die richtige Begleitung.
Kriterium | Sony OTC | Hörakustiker |
---|---|---|
Preis | Günstig, ab ca. 1.000 € | Basisversorgung kostenfrei, Zuzahlung möglich |
Anpassung | Nur über App, keine Feinjustierung | Individuell mit Messung, Training & Nachsorge |
Erfolgschance | Nur bei unkomplizierten Fällen | Auch bei komplexer Hörverarbeitung |
Risiko | Über- oder Unterversorgung möglich | Begleiteter Lernprozess, sicherer Einstieg |
Fazit: Technik ersetzt keine Expertise
Sony bringt Bewegung in den Markt – das ist zu begrüßen. Doch wer glaubt, mit einem günstigen OTC-Gerät dauerhaft gut zu hören, wird früher oder später feststellen: Es geht nicht nur um Technik, sondern um Verarbeitung, Training und Anpassung. Genau darin liegt die Stärke der professionellen Hörakustik.
Mehr zum Thema: Lesen Sie unseren umfassenden Ratgeber zur Hörgeräte-Kaufberatung – mit allen Optionen, Preisen und Entscheidungshilfen für 2025.
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