Hörgeräte sollen nicht alles lauter machen – sondern den Hörstress senken
von von Maximilian Bauer, MSc. Clinical Audiology (Kommentare: 0)

Gutes Hören bedeutet nicht nur, mehr zu hören – sondern weniger Hörstress
Früher dachte ich, ein gut eingestelltes Hörgerät sei dann perfekt, wenn es möglichst viele Klänge wieder hörbar macht. Heute sehe ich das anders. In meiner praktischen Arbeit als Hörakustiker und Audiologe habe ich eines immer wieder erlebt: Entscheidend ist nicht, wie viel man hört – sondern, wie belastend das Hören wird.
Ein gut versorgter Kunde berichtete mir einmal:
„Ich verstehe mit den Geräten alles – aber ich kann es nicht aushalten.“
Dieser Satz hat sich eingebrannt. Denn er macht deutlich, worum es beim Hören im Alltag eigentlich geht: Nicht um Verstärkung. Sondern um Entlastung.
Warum Lautstärke nicht gleich Verständlichkeit ist
Hören ist keine lineare Rechenaufgabe. Nur weil ein Ton wieder lauter wahrgenommen wird, ist er noch lange nicht sinnvoll verarbeitet. Das gilt besonders für Sprache in komplexer Umgebung. Die klassische Akustikerlogik sagt oft: Wenn’s zu leise ist, machen wir’s lauter. Wenn’s zu laut ist, machen wir’s leiser. Doch das greift zu kurz.
Denn: Das Gehirn entscheidet, ob ein Klang als relevant, vertraut oder störend empfunden wird. Wenn Hörgeräte Signale zwar hörbar machen, aber die Reizflut nicht filtern, entsteht ein paradoxes Ergebnis: Man hört mehr, aber man kommt weniger zur Ruhe.
Was genau ist „Hörstress“?
Hörstress bezeichnet den Zustand, in dem das Gehirn übermäßig viel Energie aufwenden muss, um auditive Informationen zu verarbeiten. Er entsteht, wenn Reize nicht sinnvoll gefiltert, gewichtet oder emotional eingeordnet werden können.
Typische Symptome sind:
- geistige Erschöpfung nach Gesprächen
- erhöhte Reizbarkeit in lauter Umgebung
- Rückzugstendenzen trotz technisch guter Hörleistung
- das Gefühl, nicht abschalten zu können
Besonders häufig tritt Hörstress bei Menschen mit Hörverlust auf, die durch ihre Hörgeräte zwar viel wahrnehmen – aber zu wenig steuern können. Die Bandfilter der Cochlea sind oft zu breit, die Reizselektion geschwächt. Das Gehirn versucht auszugleichen – und überfordert sich dabei selbst.
Warum klassische Hörgeräteanpassung an ihre Grenzen stößt
Viele Anpassungen konzentrieren sich auf Messkurven, Zielverstärkung und Frequenzabgleich. Natürlich ist das wichtig. Aber es greift zu kurz, wenn der zentrale Verarbeitungsanteil unberücksichtigt bleibt.
Ein Beispiel: Zwei Kunden mit identischer Audiogramm-Kurve können völlig unterschiedlich auf denselben Klang reagieren. Der eine fühlt sich wohl, der andere überfordert. Woran liegt das? An der zentralen Hörverarbeitung – und an der Frage, wie gut das Gehirn mit den angebotenen Informationen umgehen kann.
Eine moderne Hörgeräteanpassung braucht deshalb mehr als technische Justierung. Sie braucht ein Verständnis für das, was ich heute neurokognitives Hören nenne.
Weniger Hörstress als neues Ziel
In meiner Arbeit habe ich begonnen, die Versorgungsziele neu zu definieren. Nicht: „Hauptsache alles hörbar.“ Sondern: „Wie klingt das Leben für diesen Menschen angenehm, verstehbar – und erträglich?“
Dazu gehört:
- eine gezielte Reizgewichtung, zum Beispiel mit NeuraSync
- eine emotionale Resonanzprüfung mithilfe von EmoTone+
- und vor allem: die Erkenntnis, dass ein akzeptabler SNR oft wichtiger ist als maximale Verstärkung
Hörgeräteversorgung heißt heute nicht: alles wiederherstellen.
Sondern: dem Gehirn helfen, wieder in Balance zu kommen.
Fazit: Der neue Maßstab für gutes Hören
Ein gutes Hörgerät erkennt man nicht daran, wie viel es verstärkt – sondern daran, wie wenig Energie der Träger aufbringen muss, um durch den Alltag zu kommen.
Gutes Hören bedeutet heute:
- weniger kognitive Last
- weniger Reizchaos
- weniger Stress
Oder mit einem Satz:
Gutes Hören bedeutet nicht nur, mehr zu hören – sondern weniger Hörstress.
Autor: Maximilian Bauer, Hörakustikmeister, MSc. Clinical Audiology
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